Was Leipzig für Markéta Pilátová wundervoll macht
In Ihrer Erzählung „Leipzig ist (wie) eine Gondel“ erwähnen Sie, dass Sie Bach hören. Haben Sie sich in Leipzig näher mit ihm beschäftigt? War er präsenter als sonst?
Bachs Musik half mir schon immer mich zu konzentrieren, zum Beispiel, wenn ich etwas auswendig lernen musste oder Zeitungsartikel schrieb. Die repetitive Fuge bringt mich immer in einen Zustand, in dem ich mich besser konzentrieren kann. Ich mag die Struktur. Ich stellte fest, dass sich das auch auf mein Schreiben auswirkt. Wenn ich Romane schreibe, gibt es da eine ähnliche Struktur wie in den Fugen. Das wurde mir aber erst in Leipzig bewusst: Je mehr ich über Bach las, desto häufiger stellte ich fest, dass ich die Struktur seiner Fugen auch auf meine Texte beziehen kann. Bach gehört nicht nur wegen der Bachtaler und der Souvenirs zu dieser Stadt. Man stellt ihn sich dort vor, sieht ihn am Ende seines Lebens, als ihn die Stadt noch nicht ganz zu schätzen wusste. Es ist unglaublich, wie viele berühmte Leute hier lebten, wie viele durch die Stadt inspiriert wurden.Ich denke, es ist eine schöne und aufregende Stadt zum Leben.
Hatten Sie in Leipzig ein Lieblingscafé?
Meine Lieblingscafés waren das erwähnte Café Tunichtgut und der Wohnwagen am Fluß – ZierlichManierlich. Dort trank ich oft meinen Kaffee. Ich mochte auch den Biergarten, wo das Kleingärtnermuseum ist, das Schrebers. Gärtnerei ist meine große Leidenschaft, und als ich den Ort ganz zufällig entdeckte, verliebte ich mich sofort.
Nennen Sie uns einen Kulturort, den Sie in Leipzig spannend fanden!
Aus architektonischer Sicht gefällt mir das Museum der bildenden Künste. Ich mochte die Kunstsammlungen der Leipziger „Crème de la Crème“. Ich glaube, dadurch verstand ich Leipzig viel besser. Daran, welche Kunst die Leute sammelten und zu welchen Zeiten, kann man sehen, wie reich die Stadt war und wie kosmopolitisch ihr Geschmack. Das Museum ist eine großartige Verbindung zwischen dem Traditionellen, Echten, aus Kunstsammler-Sicht vielleicht sogar etwas Konservativem und dem schönen, modern konzipierten Bauwerk. Ich mochte auch die Spinnerei. Dort fand ich ein großformatiges Plakat, dessen Autor der brasilianische Künstler Xadalu ist. Ich habe selbst eine Zeitlang in Brasilien in Porto Alegre gelebt und musste dort immer unter einem ähnlichen Kunstobjekt auf den Bus warten. Xadalu ist ein Künstler, der sich mit der Kunst der Indianer beschäftigt. Und nun traf ich ihn wieder – in der Spinnerei in Form eines Plakats mit Tiger.
Und was sagen Sie zur Leipziger Architektur?
Am spannendsten fand ich die Leipziger Passagen – ich mochte es sehr, hindurch zu laufen und mich immer wieder überraschen zu lassen, wo ich herauskomme. Außerdem bin ich besessen von Papierwarengeschäften, deshalb mochte ich den EISENHAUER sehr gern. Dort verbrachte ich viel Zeit.
Lesen Sie momentan etwas von einem/r deutschen Autoren/in?
Im Moment lese ich das Buch von Heike Geißler „Saisonarbeit”. Das Buch handelt davon, dass die Autorin – oder ihr Alter Ego – als Saisonkraft bei Amazon arbeitet. Es ist sehr spannend und sehr gut geschrieben. Heike ist ein toller Mensch.
Können Sie sich vorstellen, in Leipzig zu leben oder zumindest für eine gewisse Zeit zurückzukommen?
Hätte ich die Möglichkeit, würde ich keine Sekunde zögern. Ich habe mich hier sehr wohl gefühlt, und ich mochte die besondere Großzügigkeit der Stadt, ihr Lebensgefühl. Es war toll hier, und ich hoffe, dass ich im Frühling zur Buchmesse wiederkommen kann.
Leipzig als Inspiration
Wo haben Sie noch geschrieben, wenn Sie nicht gerade im Hostel waren?
Ich mochte das Café Tunichtgut. Gleich daneben gibt es einen schönen Buchladen. Das Café war früher eine Fleischerei, und heute ist es ein Raum im Jugendstil. Im Tunichtgut schrieb ich eine ganze Erzählung.
Hatten Sie vor dem Residenzprogramm schon Ideen für Ihre Texte, oder ließen Sie sich von der Atmosphäre der Stadt inspirieren?
Ich hatte einen Plan – jetzt habe ich ein Angebot des tschechischen Verlags Fra, der einen Erzählband veröffentlichen will. Ich soll drei bis vier Erzählungen dafür schreiben. Ich sammle die ganze Zeit Ideen. Sie werden in meinem Kopf geboren, und später entsteht eine Erzählung daraus. Eigentlich schreibe ich kaum Erzählungen, nur nach Auftrag für ein Magazin oder einen Erzählband mit mehreren Autoren. Das konkrete Angebot war allerdings interessant. Ich schrieb mir vorab Ideen auf, und in Leipzig entwickelte ich sie weiter. Zum Beispiel das Café Tunichtgut: Einerseits klingt der Name auf Deutsch gut, andererseits hat er gleich mehrere Bedeutungen. Alle meine Ideen stellte ich zusammen, und am Ende sind vier Erzählungen entstanden. So ein Residenzprogramm ist für mich sehr fördernd, denn meistens entsteht währenddessen viel mehr als zu Hause. Normalerweise schreibe ich an einer Erzählung ein bis zwei Monate. Hier schrieb ich vier Erzählungen innerhalb eines Monats. Es freut mich sehr, dass mich dieser Ort so inspiriert hat. Ich bin immer von Reisen inspiriert, bei denen ich die Welt mit frischem Blick sehe. Das hilft mir beim Schreiben immens.
Hat die aktuelle Lage beeinflusst, wie und worüber Sie schreiben? Finden Sie es gut, mehr Ruhe zum Schreiben zu haben? Spiegelt sich Corona unterschwellig in Ihrem Schreiben wieder?
Ich nehme die Situation sehr negativ wahr. Einerseits habe ich durch den Lockdown zwar mehr Zeit zuhause zu schreiben, andererseits wird mein Schreiben durch die alles durchdringende Verunsicherung beeinflusst. Die Leute im Hostel waren davon ebenso betroffen. Es gab einige Gäste, die von Land zu Land vor Corona davongelaufen sind. Als ich fuhr, wurde das Hostel geschlossen, so dass manche ihren Aufenthalt stornieren bzw. abbrechen mussten. Es war traurig. Auch finanziell ist die Lage für mich sehr schwierig, denn jeden Monat fallen viele Lesungen aus, von deren Einnahmen ich normalerweise lebe. Hinzu kam, dass mein aktuelles Buch am 23. Oktober erschien, als die Buchläden geschlossen hatten. Die Situation ist schrecklich, und sie hilft mir auch nicht wirklich beim Schreiben.
Nicht einmal in dem Sinne, dass sie in Ihnen existenzielle Fragen weckt, die Sie beim kreativen Schreiben inspirieren?
Da hätte ich viel lieber andere Inspirationsquellen. Etwas Fröhlicheres.
An welchen weiteren Orten entstanden Ihre Erzählungen?
Viele Ideen bekomme ich beim Joggen. In Leipzig schrieb ich zum Beispiel das Kinderbuch „Veverka z Vamberka“ („Ein Eichhörnchen aus Vamberk“) – es ist eine Art Leporello, das im Verlag Meandr erscheinen wird. Ideen für Kinderbücher habe ich häufig beim Joggen: Dieses Buch entstand fast komplett im Clara-Zetkin-Park.
Wie ist das, wenn Sie joggen und es fällt Ihnen etwas ein – wie merken Sie sich die neuen Gedanken?
Beim Joggen denke ich mehr über die Handlung nach. Da habe ich die meisten Ideen. Und wenn es eine Wortverbindung ist oder etwas, wovon ich weiß, dass ich es wieder vergesse, dann tippe ich es in mein Handy ein.
Der erste Eindruck
Frau Pilátová, wie fühlte sich der Aufenthalt in Leipzig für Sie an? Wie hat es Ihnen hier gefallen?
Ich hatte eine wunderbare Zeit in Leipzig. Das Residenzprogramm war für mich ideal, denn ich mag es, meine Arbeit mit dem Reisen zu verbinden. Wenn ich reise, schreibe ich, weil es für mich Inspiration bedeutet. Gleichzeitig brauche ich für das Schreiben eine gewisse Routine, die durch das Programm wunderbar gewährleistet wird.
Wie sieht Ihr schriftstellerischer Alltag aus?
Über die Jahre habe ich mir folgenden Rhythmus angewöhnt: Ich stehe sehr früh auf, vormittags arbeite ich und nachmittags gehe ich joggen. Abends unterrichte ich, übersetze oder lerne Fremdsprachen. Das ist mein Alltag. Es war deshalb nicht schwer, mich auch während meiner Zeit in Leipzig daran zu halten.
Wo waren Sie untergebracht?
Ich bekam eine schöne Wohnung im Leipziger Hostel Five Elements. Ich war die Erste, die im Rahmen des Residenzprogramms dort untergebracht wurde, und ich muss sagen, es war ein idealer Ort zum Schreiben. Die Wohnung befindet sich ganz oben unterm Dach, wo es auch zwei Terrassen gibt. Man trifft sich häufig in der sogenannten Lounge, zum Frühstücken, Kochen oder einfach nur, weil dort der beste W-Lan Empfang ist (Lachen). Das Hostel ist sehr international. Abends gab ich dort Spanisch- und Portugiesisch-Unterricht und lernte selbst Deutsch und Italienisch. Ich unterhielt mich viel mit den Gästen vor Ort. Die internationalen Gäste waren wunderbar. Außerdem gab es auch andere, die wie ich länger dort wohnten: ein Spanier, zwei Argentinierinnen, eine Rumänin, die als Ghost Writer tätig ist. Es war so bunt, das hat mich sehr gefreut. Wenn mir danach war, interessante Leuten zu treffen, saß ich in der Lounge. Wenn ich aber meine Ruhe brauchte, schrieb ich oben in der Wohnung.
Wie wirkte Leipzig als Stadt auf Sie?
Ich mochte Leipzig sehr, denn es ist eine Stadt mit hoher Lebensqualität. Es gibt viele Orte, wo man dem Trubel entfliehen kann – mit dem Fahrrad oder joggend. Ich fuhr häufig einfach los und hielt dort, wo es mir gefiel. Manchmal joggte ich eine Strecke und fuhr dann mit dem Fahrrad wieder zurück, egal ob in den Parks, am Cossi oder Zwenkauer See. Ein Fahrrad stand mir zur Verfügung, was wirklich toll war. Die Fahrradwege hier sind so genial. Alles schließt aneinander an, und die Wege sind sehr übersichtlich. Natürlich ist auch die geographische Lage ein großer Vorteil – Leipzig ist ja sehr flach. Im Allgemeinen mag ich an Deutschland das Gefühl für Wildnis. Praktisch mitten in der Stadt lässt man Natur einfach zu und die Leute bekommen ein Gefühl dafür, wie Wildnis in die Stadt zurückkehrt. Man hat hier die Möglichkeit, mitten in der Stadt und gleichzeitig in der Natur zu sein. Es sind solche Details, die mich faszinieren. Leipzig ist unerwartet grün und natürlich. Mir gefiel ebenso die Wassernähe der Stadt. Ich hatte keine Ahnung, dass Leipzig so eine wunderbare Wasserstadt ist. Den ganzen Monat hatte ich schönes Wetter und badete sogar einmal im See.
Wie gefiel Ihnen die kulturelle Seite Leipzigs?
Leipzig überraschte mich mit kultureller Vielfalt und dem großen Angebot an Veranstaltungen und das, trotz des bevorstehenden zweiten Lockdowns. Ich hatte das große Glück, dass ich noch viel erleben konnte. Ich besuchte fast alle Museen, ich war auf der GRASSIMESSE – das war wirklich wunderbar. Ich bin sehr froh darüber, denn bisher kannte ich die Stadt nur flüchtig. Wenn man während der Buchmesse hier ist, hat man kaum Zeit, sich die Stadt genau anzuschauen. Ich mochte die Leipziger Industriebauten, die immer noch lebendig und funktional sind, obwohl sie heutzutage eine andere Rolle spielen. Besonders gut gefiel mir Plagwitz. Ich hatte das große Glück, dass mir Leipzig durch die Schriftstellerin Heike Geißler vorgestellt wurde, die als deutsche Residenzautorin für einen Aufenthalt in Brünn ausgewählt wurde. Wir bummelten gemeinsam durch die Stadt, und Heike zeigte mir viele neue Facetten Leipzigs.